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Dispositiv
der
Menge

Projekte

Vera Bachmann

Masse und Entwertung

Anders als die Menge tritt die soziale Masse als politisches Subjekt auf den Plan: der physikalische Begriff der Masse wird im Deutschen erstmals mit Blick auf die französische Revolution auf Menschenmengen übertragen. Dabei verliert die Menge allerdings ihre Konturen, wird als Masse formlos: der Preis der Sichtbarkeit als politisches Subjekt ist das Abstrahieren vom Einzelnen. Die Unterscheidung von Menge und konturloser Masse verbindet sich, wie herausgearbeitet werden soll, mit den unterschiedlichen Kulturtechniken des Zählens (Kollektiv) und des Wiegens (Masse). Die Unterscheidung führt über Hegel und Marx bis ins 20. Jahrhundert zu Freud und Canetti; sie zielt ins Zentrum der politischen Theorie des 19. und 20. Jahrhunderts, betrifft sie doch grundlegend das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
Das Teilprojekt konzentriert sich auf den ökonomischen Aspekt der Entwertung des Einzelnen im Übergang von Masse zu Menge: Elias Canetti hat seine Theorie der Masse mit Blick auf die historische Erfahrung der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt und die ökonomische Entwertung des Einzelnen als Voraussetzung der Entstehung einer Massengesellschaft beschrieben. Von hier aus sollen im geplanten Teilprojekt verschiedene Praktiken der Entwertung untersucht werden, die, so die These, vom Geld auf die Menschen übertragen werden. Dabei soll auch in den Blick genommen werden, was Canetti ausblendet: der immer wieder diagnostizierte Moralverfall der Frauen, der sich als Entwertung des weiblichen Körpers erweist, an dem, wie für Österreich gezeigt werden kann, die Abbildung junger Frauenkörper auf den wertlosen Geldscheinen ihren metaphorischen Anteil hat.

Davide Giuriato

Fliegenpolitik

Seit der Antike dienen Insekten und deren Zusammenleben immer wieder als Modell für menschliche Gesellschaftsformen der Menge. Insbesondere stehen die sogenannten „sozialen Insekten“ im Vordergrund, namentlich die Biene, die Ameise und die Thermiten – daran hat sich bis zur modernen Filmindustrie nichts geändert. Wie neuere Forschungen aus dem Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften gezeigt haben, ist der Vergleich mit sozialen Organisationsformen äusserst flexibel. Im Bild des „Ameisen- oder Bienenstaates“ können Insekten etwa für republikanische ebenso wie für altruistische oder totalitäre Vorstellungen herhalten. Das Projekt fragt vor diesem Hintergrund erstmals nach der Bedeutung der Fliege für die „politische Zoologie“ (J. Vogl). Damit stellt es ein Insekt zur Diskussion, das zwar seit alters als Solitär und Einzelgänger vor Augen steht und das sich scheinbar keiner sozialen Ordnung fügt, das aber in Kunst, Literatur und Philosophie immer wieder in seiner politischen Bedeutung reflektiert wird. Nicht nur unterhält es ein besonderes Verhältnis zu Königen und sonstigen politischen Oberhäuptern. Auch kann es sich trotz seiner genuinen Asozialität zu Gemeinschaften versammeln, die nicht von ungefähr immer wieder die (Un-)Form eines bedrohlichen «Schwarms» annehmen.

Jenny Haase

Zwischen Rückzug und Öffentlichkeit. Moderne Lyrikerinnen in der Romania (1900-1938)

In diesem Teilprojekt soll die Lyrik moderner Dichterinnen aus der Perspektive des Spannungsverhältnisses von Rückzug und Menge gelesen werden. Das Projekt ist Teil eines Monographievorhabens zur Mystiktradition in der Lyrik von Anna de Noailles (Frankreich, 1876-1933), Ernestina de Champourcin (Spanien, 1905-1999) und Antonia Pozzi (Italien, 1912-1938), in der der Rückzug von der Menge als ästhetische und gesellschaftliche Praxis ein zentraler Aspekt ist. Alle drei Autorinnen reflektieren sowohl in ihrer Lyrik als auch in poetologischen Reflexionen in Roman, Brief- und Tagebuchproduktion über das Verhältnis der Künstlerin/Autorin zur gesellschaftlichen Menge. Es soll besonders die Frage der poetischen Subjektkonstitution in der Auseinandersetzung mit dem modernen Ideal von Extroversion, Geselligkeit und Urbanität einerseits und der Praxis des Rückzug, der Meditation und stillen Produktivität fern der Masse (in der Natur, im ‚Zimmer für sich allein‘) andererseits im Zentrum der Analyse stehen. Im Zusammenhang mit dem von Jenny Haase organisierten Blankensee-Colloquium vom 4.-6.10.2018 zu „Rückzug. Produktivität des Solitären in Kunst, Religion und Geschlechtergeschichte“ ist eine Publikation in Vorbereitung.

Nadine Hartmann

Mädchenschwärme: Massenhysterie und Geschlecht

Hypnotische Zustände, Dissoziationen, Trancen, Konvulsionen aber auch Essstörungen von jungen Mädchen geben Eltern, LehrerInnen und WissenschaftlerInnen Rätsel über die Ursache und die Heilung von sogenannten ‚Massenhysterien‘ auf. Diese Phänomene psychischer Epidemien faszinieren die zeitgenössischen literarischen Texte und Filme, beispielsweise bei Megan Abbott, Katherine Howe, Anna Rose Holmer oder in Céline Sciamma. Die Arbeiten der Genannten regen dazu an, einen erneuten Blick auf Helene Deutschs Überlegungen zur Gruppenbildung bei Adoleszentinnen zu werfen. Für die Psychoanalytikerin stellt diese Gruppenbildung ein entscheidendes Moment weiblicher Subjektbildung dar, macht damit aber auch die Adoleszente für gefährdende Hysterie-Zustände besonders empfänglich. So fremd der Begriff einer psychopathologischen Epidemiologie auch sein mag, in den Kulturwissenschaften werden vor allem seit Siegfried Kracauers Obsession mit den ‚Tiller Girls‘ neue Ausdrucksformen und Phänomene der sogenannten ‚Massenkultur‘ als Ansteckungsphänomene betrachtet und immer wieder mit ‚Mädchen’ im Plural verbunden: Kracauer sah in den Revue-Tänzerinnen der 1920er Jahre Einzelteile einer Maschine, ein Gedanke der seine Überlegungen zum Ornament der Masse langfristig prägte. Ebenso versuchte vor nicht allzulanger Zeit das französische Kollektiv Tiqqun in Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens neuere Rekonfigurationen der Konsumgesellschaft an der Figur des gesichtlosen, d.h. vielzähligen Mädchens festzumachen. Das Projekt verfolgt die Koinzidenz von Mädchengestalt und ‚Massenhysterie’ und will fragen, worin die mimetische und virulente Komponente weiblicher Adoleszenz letztlich verankert sein könnte.

Milan Herold

Die Menge der Avantgarde

Im 20. Jahrhundert ist die Menge ein politischer und lebensweltlicher Mythos und eine neue Lebensrealität zugleich. Die literarische Avantgarde reagiert darauf auf verschiedene Weise und instrumentalisiert den Begriff der Menge. Guillaume Apollinaire ist innerhalb der Literatur des 20. Jahrhunderts paradigmatisch und bildet indes eine Ausnahme. Er kristallisiert Strömungen der Moderne und bestimmt maßgeblich die verschiedenen Bewegungen begrifflich und lässt sich doch keiner einzigen zuordnen. Diese Vagheit entspricht der des Begriffs der Menge, die Apollinaire stets rückbindet an antike Mythen.

Johanna-Charlotte Horst

Mengenlehren des Alltags

Wer den Versuch unternimmt, das Alltägliche darzustellen, bekommt es mit verschiedenen Mengen zu tun – mit Mengen von Menschen, Handlungen, Orten, Zeiten und Dingen. Als „eine Welt […] der Verflechtung in Relatives“ beschreibt Hegel die „Prosa des Lebens“, die, so Kracauer, zu einem „Dickicht des materiellen Lebens“ zusammenwachse. Vor diesem polyphonen Rauschen des „fond de bruit“ (Blanchot) steht die Literatur gemeinsam mit der Soziologie vor der Frage, wie der Alltag als widerständige Wirklichkeit (Blumenberg) narrativiert werden kann. Sowohl die Heroisierung des Exemplarischen als auch die Statik des Statistischen zielen auf die Feststellung dessen ab, was sich programmatisch nicht fixieren lässt und verpassen damit das Alltägliche. Dessen Diffusität buchstabiert sich vielmehr als eine zugleich eng geknüpfte und ambig instabile Netzstruktur aus, kurz: als ein Dispositiv – „un écheveau, un ensemble multilinéaire“ (Deleuze). Diese Textur der Wirklichkeit manifestiert sich in Erzählmodi, die mit den Mengenlehren des Alltags rechnen und eine Phänomenologie des Kollektiven (Waldenfels) betreiben. In ihnen wird die Prosa des Alltagslebens als ein Dispositiv der Menge entzifferbar.

Kai Nonnenmacher

Die Ambivalenz der Menge zwischen Revolution und Romantik

Dieser Beitrag ist Teil eines eigenen Forschungsvorhabens zum Thema „Politisches Denken und literarische Form“ als Kooperation mit der Politikwissenschaft, vgl. die gleichnamige Buchreihe (bei Springer), die auf vier Bände angelegt ist. Bei der Zürcher Tagungssektion „La Foule“ von Cornelia Wild und Hermann Doetsch wurden von mir am Beispiel von Tocquevilles Demokratieverständnis und Lamartines Historiographie der Girondisten zwei Formen des Zwiespalts gegenüber der Menge zwischen „peuple, foule, populace“ (Volk, Menge, Pöbel) diskutiert: Die ambivalente Semantisierung der Menge zwischen Idee und Konkretion, zwischen Kontrolle und Eigendynamik in dieser Zeit weist bereits in das leere Zentrum der politischen Moderne, so die Ausgangsthese. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Beschäftigung mit der Menge in der Hochphase der Modernisierung und Urbanisierung indes deutlich stärker erforscht als für die ‚Latenzphase‘ zwischen absolutistischer (Unter-)Ordnung des Volkes, seiner vorübergehenden Subjektwerdung in der Revolution – selbst noch in Robespierres Selbstermächtigung als „défenseur du peuple“ – und der postrevolutionären Situation zwischen Napoleon und der Revolution von 1830, noch vor etwa Baudelaire oder Benjamins Paris. In diesem Teilvorhaben des Netzwerks soll also eine unmittelbare Vorgeschichte der voll entfalteten Menge der Moderne betrachtet werden, von den fragmentarischen Großstadtbeobachtungen der vorrevolutionären Volksszenen in Merciers Tableau de Paris (1781) über das uneinheitliche Verhältnis der katholischen und die liberalen Historiographen zu den französischen Massen bis zur Ambivalenz der Foule in Balzacs gesellschaftspolitischen Poetik der Comédie humaine. Deshalb scheint mir der Kontrast zu Untersuchungen der später angelegten Teilprojekte für die Einordnung eigener Ergebnisse sehr hilfreich.

Karin Schulz

Einer und Viele. Wirkungsdialektiken im Rausch der Menge

Der Erfahrungsblick des Individuums steht im Mittelpunkt des Teilprojekts, das die Diagnostik von Masse für die eigenständige Perspektive des teilhaften, sowie des außenstehenden Einzelnen schärfen möchte. Individuelle Affekte als Grundstein rauschhaften Zusammenwirkens offenbaren die Menge als ein bewegungssensitives Gefüge, das sich durch ein weites Feld an impulsiven Wirkungskräften wie Kollision, Kohäsion, Abstoßung und Friktion charakterisiert. In literarischen Texten finden diese heterogenen Wirkungsdialektiken eine ästhetische Funktionalisierung und Stilisierung, die jenen emotional rückgebundenen Gestaltungsspielraum des Individuums in der Begegnung mit der Menge erfahrbar machen. Das bereits in seiner Qualität der Inszenierung erkannte, ästhetische Potential textueller Figuration und Defiguration von Menge kann weiterführend in seiner Wirkungstiefe einer emotionalen Aktivierung und Dynamisierung des Individuums erklärt werden. Als Teil argumentativer Textstruktur bilden die Semantiken von Bewegung die Wahrnehmung des Individuums hinsichtlich Veränderungen ab, zeigen folglich die Herausforderungen, aber auch das Erfahrungspotential im Rausch der Menge.

Hanna Sohns

Weibliche Scharen

Das Projekt widmet sich ausgehend von der antiken Literatur einer Beschreibung und Neubestimmung der Figur der weiblichen Schar. Die antike Mythologie zeigt sich beherrscht von der Präsenz weiblicher Scharen: Musen, Sirenen, Harpyien, Erinnyen wären nur einige prominente Beispiele. Nicht nur die Figur der weiblichen Schar selbst ist damit plural, sie gehört zu einer Vielzahl von Scharen, zu denen ein männliches Pendant in dieser Ausprägung und bis auf wenige Ausnahmen fast vollständig fehlt. Auch wenn sich häufig eine einzelne Figur aus diesen Scharen absondert – das Hervortreten der einen Nymphe, der Anruf einer Muse –, so zeigen sich diese Figuren doch stets einer größeren Schar zugehörig. Das Teilprojekt sucht danach, diese verschiedenen Figuren von Scharen oder Schwärmen nicht als Einzelphänomene zu beschreiben, sondern sie hinsichtlich einer übergeordneten Figur zu befragen. So fällt bei dem Versuch einer Klassifikation der antiken Scharen ihre genealogische Verwandtschaft und Überschneidung auf. Dieses eigentümliche Ineinander-Übergehen der Figuren und ihrer signifikanten Merkmale ist bislang für die Antike weitgehend unbemerkt geblieben und nur vereinzelt und am Rande in Bezug auf einzelne Gruppen bemerkt worden. So fehlt es zwar nicht an Studien, die die unterschiedlichen Figuren zu befragen und klassifizieren suchen, doch gibt es bislang keine Studie, die dem übergreifenden Phänomen dieser antiken weiblichen Figur in ihrer auffälligen und doch fast unbemerkten Häufung nachgeht. Warum sind diese Figuren weiblich? Warum wiederholen sich hier in auffälliger Weise bestimmte Eigenschaften, Zuschreibungen und Attribute? Die Literatur und moderne Kunst zeigt sich bekanntlich von dem Fortleben dieser antiken Figuren bestimmt. Das Projekt untersucht einen Teilaspekt aus meinem Habilitationsprojekt.

Gianluca Solla

Avantgarde des kommenden Lebens

Ziel meines Projekts wird sein, auszuloten, welche Implikationen es hat, Asylsuchende wie auch die Migranten im allgemeinen (es wird hier nicht um eine Unterscheidung zwischen solchen Kategorien gehen) als „Avantgarde“ zu betrachten. Als solche erscheinen die Protagonisten der Migrationen nicht mehr nur als Schutzbedürftige oder schlimmer noch als Eindringliche oder Risikofaktoren der westlichen Gesellschaft, sondern sie sind Träger einer Geschichte, die sie vorwegnehmen. Das Experiment, zu dem Hannah Arendts Formel von den „Flüchtlingen als Avantgarde der Völker“ uns auffordert, ist nämlich, Lebewesen nicht als Migranten, Staatenlose, Flüchtlinge, Asylsuchende usw. zu betrachten, sondern als eine Avantgarde. Anders als bei Arendt möchte ich sie nicht nur als „Avantgarde ihrer Völker“, sondern als Avantgarde des Volkes schlechthin denken, d.h. als unsere eigene Avantgarde oder besser gesagt: als Avantgarde des kommenden Lebens.

Hannah Steurer

Figurationen der Menge im nouveau roman

In diesem Teilprojekt sollen die Figurationen der Menge im nouveau roman, besonders bei Michel Butor, Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute und Claude Simon, untersucht werden. Die Ästhetik des nouveau roman als Abkehr von einer traditionellen Narration beruht in wesentlichen Zügen auf dem Abschied vom personnage, der klassischen Romanfigur. Sie wird ersetzt durch (Erzähler-)Figuren, deren Identität unsicher, instabil und wechselnd ist und stets neu in einen Auflösungsprozess eintreten kann – die Grenzen von Individuum und Menge werden dabei fließend und verschieben sich immer wieder. Die handelnden Personen sehen sich so nicht nur mit der Menge konfrontiert, sondern sind selbst Figuren des Plurals, die in der Existenz von Doppelgängern, Zwillingsgestalten und Traum-Alter-Egos eine Menge von Identitäten in sich bergen. Zugleich eint die Autoren, die zum nouveau roman gerechnet werden, der Blick auf die Großstadt – Paris, Berlin, New York etc. –, die nicht erst seit Baudelaire ein Ort der Menge ist. Darüber hinaus verbindet zahlreiche Werke des nouveau roman eine Faszination für die Infrastrukturen öffentlicher Verkehrsmittel (U-Bahnen, Straßenbahnen, Züge), die, sei es innerhalb einer Stadt oder im Transport zwischen zwei Städten, zum Ort der Konstitution und Dissolution von Menge werden. Das Individuum wird in der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel unweigerlich zum Teil einer ephemeren Menge, die sich an jeder Station neu formiert.
Im Mittelpunkt des Projekts stehen dabei die Fragen nach einem dem nouveau roman eigenen Verhältnis von Individuum und Menge, nach einem neuen Zugriff auf die Stadt als Ort der Menge und schließlich nach den neuen Perspektiven, die der Umgang des nouveau roman mit Infrastrukturen öffentlicher Verkehrsmittel für den Diskurs der Menge im 20. Jahrhundert eröffnet.

Kathrin Thiele

Entanglement

Das Projekt beschäftigt sich mit konzeptuellen Figuren des ‚entanglements’, also mit onto-epistemologischen Verschränkungsformen, die für Multitude, Menge, Pluralität und Versammeln konstitutiv sind. Entanglement hat sowohl einen onto-epistemologischen als auch einen ethisch-politischen Gehalt, und mit entanglement kann die gängige, dialektische Gegenüberstellung von Individuum und Kollektiv, oder das entweder/oder Schema von In- Relation-stehend/vermischt versus fragmentiert/gespalten zu sein in eine andere Denkform gebracht werden. In meinem Projekt werden sowohl die onto-epistemologischen als auch die ethisch-politischen Dimensionen ausgeleuchtet, die dieses Verschränkungsdenken im Hinblick auf eine immer schon differenzierte und sich weiter differenzierende Welt machen kann. Differenz und Differentialität werden als gleichzeitige Prozesse des ‚cutting-together-apart‘ (Barad) verstanden, die eine andere (Denk)Form von Vielheit ermöglichen. Eine, die nicht mehr bei der Gegenüberstellung von Ein- versus Vielheit beginnt, sondern Einheit immer schon als Mit-einander (sympoiesis (Haraway) / co-poiesis (Ettinger / intra-activity (Barad) / ecumenical (Wynter)) figuriert.

Martin Treml

Die Menge in Pier Paolo Pasolinis La Ricotta

In Pier Paolo Pasolinis Kurzfilm La Ricotta ist die Menge stets präsent: die des Filmgeschäfts, die der Armen Roms, die der christlichen Heilsgeschichte. Sie ist dabei nicht so sehr Gegenspielerin des Erlösers (sei es Christus, sei es des Komparsen) als vielmehr Stoff von seinem Stoff, nicht alter ego, sondern Spiegel im Sinne von Paulus (Erster Brief an die Korinther 13,12). Sie verdunkelt, entstellt und lässt nicht „von Angesicht zu Angesicht“ erkennen. Doch ihr Verrat ist der des Petrus, wie ihn Erich Auerbach im 2. Kapitel der Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur bestimmt hat: Engführung der Weltliteratur nach ihren griechischen und jüdischen Anfängen im sermo humilis und gloria passionis. Pier Paolo Pasolini soll also mit Auerbach vor dem Hintergrund der Passion als Darstellung der Wirklichkeit, des Volkes, der Menge, gelesen werden.

Jobst Welge

Figurationen von Subjekt und Masse in der lateinamerikanischen Kultur, 1899-1935

Anknüpfend an meinen Aufsatz zur Dialektik von Subjekt und Masse in der europäischen Literatur (in dem Band Crowds, 2006) möchte ich in diesem Projekt das bislang kaum erforschte Zusammenwirken von der Formation der lateinamerikanischen Intellektuellen und der Repräsentation der Masse in den Blick nehmen, als Ausdruck politischer und ästhetischer Positionen gegenüber Phänomenen der Modernisierung. Dies soll exemplarisch an einer Reihe von kulturgeschichtlichen Episoden diskutiert werden: von der massensoziologischen Theorie des Argentiniers J. M. Ramos Mejía (Las multitudines argentinas, 1899), der ambivalenten Thematisierung der populären Masse in Texten der Essayistik (J. E. Rodó, Ariel, 1900), bis zum programmatischen Aufruf „Mit den Massen marschieren“ (M. de Andrade) in der Spätphase der brasilianischen Avantgarde und zum sozialistischen Realismus des mexikanischen Malers J. C. Orozco (Las masas, 1935).

Cornelia Wild

Plebs urbana. Stimmen in/der Menge

Was scheidet die Menge von sich ab? Was schließt sie aus? Die Menge produziert Differenzen in Bezug auf das Phantasma eines einheitlichen, kontrollierbaren Körpers und spaltet von sich ab, was sie nicht integrieren kann. Das Teilprojekt untersucht an exemplarischen Figuren des niederen Volkes bei Morante, Ginzburg und Pasolini die Möglichkeiten der Repräsentation bedürftiger Gestalten, der kleinen Leute, Näherinnen, Tagträumer und Tagträumerinnen. Die Bedürftigen bekommen in der italienischen Literatur eine Stimme, ein Gesicht, Gesten, Geschichten. Durch eine eigene Erzählweise, die Pasolini freie indirekte Rede genannt und Auerbach bei Dante als sermo humilis bestimmt hat, wird die italienische Literatur zum Ort des Nachsprechens und der Vervielfachung der Rede des einfachen Volkes. Die Menge soll dementsprechend in dem Teilprojekt als das bestimmt werden, was sie nicht integrieren kann. In den „kleinen Geschichten“ artikulieren sich die durch die Geschichte hindurch gespeicherten und vergessenen Momente der römischen plebs urbana: Das Paradox der Nichtrepräsentierbarkeit zeigt sich in der Wiederkehr von Bildern und Stimmen, die ein Archiv bilden, das von der Menge gleichzeitig mittransportiert und verborgen wird.